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Frisch, "Du sollst dir kein Bildnis machen"

Max Frisch, "Du sollst dir kein Bildnis machen" - auch das ein Bild?

Es handelt sich hier um einen sehr berühmten Text von Max Frisch, der meistens so verstanden wird, dass man keine "Vorurteile" entstehen lassen und pflegen sollte - wie sie etwa in seinem Stück "Andorra" einem Menschen zum Verhängnis werden.
Es lohnt sich allerdings, den Text etwas genauer zu überprüfen, dann weitet sich nämlich der Blick über Frischs Selbstverständnis hinaus.

Wir vertreten hier die Hypothese, dass Frisch sich selbst ein "Bildnis" macht, nämlich von der Liebe, das den Blick verengt auf viel weitergehende Aufgaben gegenüber allen Menschen.

Wir erklären hier zunächst einmal das Bild - weiter unten gibt es eine ausführliche kritische Vorstellung des Textes.
Anmerkungen zum Schaubild:
  1. Frisch geht zu Recht davon aus, dass alle Menschen in der Gefahr sind, sich feste Bilder zu Vorurteilen auszugestalten.
  2. Er irrt aber, wenn er glaubt, dass in der Liebe diese Vorurteile überwunden werden. Natürlich hat er Recht, dass man - verliebt wie man ist - offen ist für den geliebten Menschen, ihm mehr oder weniger fast überallhin folgt - aber das geschieht, weil man eben verliebt ist und eine rosarote Brille trägt.
    Zum Teil ist es ja sogar so, dass bereits der Einstieg in die Liebe einem vorgefertigten Suchmuster folgt, das zum Beispiel in der Kindheit ausgeprägt wurde. So soll es Männer geben, die auf ganz bestimmte Frauentypen stehen - oder auch Frauen, die in Männern ihren Vater suchen - dies sind nur Beispiele, zu denen man letztlich Psychologen heranziehen muss. Wir präsentieren sie hier nur, weil es offensichtlich solche Such-Raster gibt. Wenn man googelt: "Beuteschema Liebe", kommt man schnell auf interessante Beiträge, z.B.
    http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/beuteschema-warum-verlieben-sich-zwei-menschen-a-959479.html
  3. Richtig ist sicher, dass in der Literatur Liebe noch stärker überhöht wird. Im Schaubild wird rechts darauf hingewiesen, dass gerade diese Überhöhung eine Liebesbeziehung belasten kann. Denn welcher Partner kann schon wirklich "göttlich" sein.
  4. Frisch glaubt, dass erst die Liebe verschwindet und dann sich feste Vorstellungen herausbilden. Wir halten das aber mindestens für einen verschränkten, dialektischen Prozess, in dem das eine das andere bedingt bzw. fördert: Man stellt eben fest, dass der Partner nicht dem eigenen oder dem literarischen Ideal entspricht - das schafft Abstand - und das ist dann das erste kleine Loch im Liebesballon - der Prozess der Wieder-Entfremdung kann sich dann rasch beschleunigen.
  5. Frisch glaubt, dass es nur in der Liebe den Verzicht auf falsche bzw. fixe Festlegungen, fertige Bildnisse gibt. Dagegen spricht, dass eine wirkliche Liebe eben auch Vertrautsein und Verlässlichkeit bedeutet, umso größer ist dann die Enttäuschung bei einem Seitensprung des Partners, wenn der sich nämlich offen für einen anderen Menschen zeigt. Da geht kein liebender Mensch so einfach mit, er ist verletzt, weil sein gerechtfertigtes Bild vom Partner belastet oder sogar zerstört worden ist. Liebe bedeutet eben auch "in guten und in schlechten Tagen" zueinander halten, enthält das Moment der Ewigkeit ("gemeinsam alt werden wollen"). Die Natur hält davon aber nicht immer so ganz viel - und so sind die Entfaltungen nicht immer der Liebe förderlich - und umgekehrt.
  6. Außerdem sollte jeder Mensch ein Recht darauf haben, dass man die eigenen Urteile immer wieder überprüft und anpasst. Das ist eine Frage der Vernunft, nicht der Liebe.
  7. Wir stellen also abschließend fest, dass Frisch selbst zu denen gehört, die in der Literatur (und dazu gehört sein Text letztlich, ganz gleich ob er erstmals im Tagebuch stand oder nicht) die Liebe so überhöhen, dass sie gerade daran auch scheitern kann. Es ist dann zu viel Offenheit im Spiel - und zu wenig Verbindlichkeit. Das kann man sich in jeder anderen Beziehung leisten, aber gerade nicht in der Liebe. Also: Lieber Max, du bist ein guter Schriftsteller, aber du bist in Fragen der Liebe genauso ein Opfer der eigenen Anschauungen wie alle anderen Menschen auch.

Kritische Durchsicht des Gedankengangs von Frisch in seinem Text

Anmerkungen zum Schaubild:
  1. Es ist nicht einfach, einen linearen Ablauf systematisch darzustellen. Wir haben deshalb die einzelnen Abschnitte durchnummeriert, ansonsten aber versucht, Zusammenhänge deutlich zu machen.
  2. Ganz links finden sich Hinweise zur Funktion der Abschnitte.
  3. Dann kommt die Beschreibung des Inhalts - rechts rausgezogen haben wir grundsätzliche Äußerungen zum Wesen der Liebe.
  4. Außerdem haben wir versucht, den Schluss-Appell mit dem Anfangsteil zu verbinden, indem wir rechts eine Verbindung hergestellt haben.
Näheres jetzt in der Beschreibung der einzelnen Gedankenschritte.
Während es eben um die Position Frischs ging, geht es jetzt um die Überprüfung der Abfolge der Gedanken im Text:
  1. Max Frisch beginnt mit dem Phänomen, dass wir uns vom Menschen, den wir lieben, gerade kein Bild machen (können). Er meint damit ganz offensichtlich ein festes Bild, weil er als Kern der Liebe hervorhebt, dass man dem Gegenüber dann "in allen seinen möglichen Entfaltungen" folgen will.
  2. Diesen Gedanken dehnt er dann auch auf die andere Seite aus: Auch der geliebte Mensch fühle sich wie verwandelt.
  3. Letztlich kommt es Frisch auf die Bereitschaft zur Veränderung an - auf beiden Seiten.
  4. Als Beispiel für die Unmöglichkeit, den Gegenstand der Liebe zu erfassen, zieht er die mühsame Suche der Dichter heran, wenn sie Phänomene der Liebe beschreiben. Er geht sogar so weit, diese Unermesslichkeit auf das All, ja auf Gott zu übertragen.
  5. Etwas sehr positiv behauptet er: "Das ist ja das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solange wir sie lieben." Dass es sich dabei häufig um einen Zwischenzustand handelt, der mit viel Unruhe, ja zum Teil Verzweiflung bzw. Unsicherheit verbunden ist, verschweigt er hier. Ebenso, dass zu einer reifen Liebe wohl auch gehört, dass man sich auf den anderen verlassen kann - das heißt, dass man ihn dann auch zu kennen glaubt. Es gibt genügend Leute, die das nicht als Gipfel der Liebe empfunden haben, wenn der Partner dann auch plötzlich mal jemand anders liebte. Ebenfalls verschweigt Frisch, dass zu Liebe bei vielen Menschen auch das Besitzen-Wollen gehört - nur so ist Eifersucht erklärlich.
  6. Recht hat Frisch sicher, wenn er das genaue Kennen des Anderen mit dem Ende der Liebe gleichsetzt. Auch hier muss man Frisch nicht folgen, wenn er die Alltagserfahrung mit der Reihenfolge einfach umdreht: Erst ist für ihn die Liebe weg - dann das Kennen fertig. Jeder Mensch ist doch in der Gefahr, mit seinen Abenteuerseiten auch mal ans Ende zu kommen - und dann muss die Liebe auf eine neue Grundlage gestellt werden, eben gemeinsame Erfahrungen und Verlässlichkeit, das Zusammenstehen "in guten und in schlechten Tagen".
  7. Im vorletzten Abschnitt kommt Frisch dann mit einem neuen Gedanken: Jetzt beklagt sich der mit der Liebe ans Ende Gelangte plötzlich, dass der geliebte Mensch nicht so ist, wie er ihn sich vorgestellt hat. Dabei ist das doch in einem hermeneutischen Sinne ein fortlaufender Prozess, bei dem man sich ein vorläufiges Bild macht vom Gegenüber, das dann angepasst werden muss.
  8. Man merkt hier deutlich, dass Frisch ein sehr enges Bild vom Bild hat - der Text enthält wichtige Anstöße: Tatsächlich soll man für den geliebten Menschen offen bleiben wie für das Leben selbst. Allerdings ist es wohl doch schöner, wenn die Grundlinien des Bildes, das zum Heiratsantrag geführt hat, einigermaßen erhalten bleiben oder sogar noch ausgebaut werden.
  9. Am Ende fasst Frisch noch einmal zusammen, dass es eine Sünde sei, sich von Gott oder dem Lebendigen allgemein ein "Bildnis", also ein festes Bild zu machen. Am Ende dann aber die überraschende Einschränkung: "Ausgenommen wenn wir lieben." Ja was denn nun: Worauf bezieht sich das? Anscheinend nur auf den Schluss des Satzes davor: Frisch will dann sagen, dass Menschen, die lieben, eben diese Sünde nicht begehen, weil sie sich kein festes Bild vom geliebten Menschen machen.
  10. Aber hier bleibt das ungute Gefühl, dass Frisch nicht unterscheidet zwischen den ganz natürlichen Zwischenbildern, die wir uns von anderen Menschen machen, ja machen müssen - und einem zwanghaften Bild, aus dem der geliebte Mensch nicht herauswachsen darf. Auch nicht ganz durchdacht ist von Frisch in diesem Textauszug der biblische Hintergrund: Der Gott der Juden präsentiert sich ja gerade als eifersüchtiger Gott, der kein gleichrangiges Wesen neben sich duldet. Aber der liebende Mensch fühlt sich in der Regel doch dem geliebten Menschen näher als Gott - und kann nur hoffen, dass der in seiner väterlichen oder auch mütterlichen Güte das hinnimmt - so wie auch Eltern es ertragen müssen, dass sich Sohn und Tochter wegen der Liebe von ihnen entfernen.
    Also: Insgesamt ein sehr anregender Text - aber bei weitem nicht so einfach, wie die knappe Überschrift es erst mal andeutet.
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