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Goethe, "Harzreise im Winter"


Goethes Gedicht "Harzreise im Winter" - einfach erklärt

Im Folgenden zeigen wir, wie man mit zwei einfachen Mitteln auch ein recht schwieriges Gedicht "knacken" kann.
Ganz bewusst, haben wir kein externes Wissen und auch keine Sekundärliteratur herangezogen.
Uns ging es einfach darum, mit genauem Hinsehen und ggf. auch ein bisschen hypothetischem Hinzudenken das Gedicht möglichst gut zu verstehen.
Abgesichert wird das nur durch die hermeneutische Methode, bei der immer wieder die eigenen Annahmen mit dem Text abgeglichen werden.

Weiter unten werden wir dann auf eine aus Schulsicht "extrem" wissenschaftliche Interpretation dieses Gedichtes verweisen - Germanistik pur.
Johann Wolfgang Goethe

Harzreise im Winter

1. Strophe
Dem Geier gleich,
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied.
  • Die erste Strophe präsentiert einen Wunsch des lyrischen Ichs, das sich hier als Sänger beziehungsweise Dichter präsentiert.
  • Ausgehend wohl von einer Naturerfahrung bei der im Titel angegebenen Gelegenheit vergleicht es den eigenen Gesang mit einem als majestätisch empfundenen Raubvogel, der offensichtlich die als schwer empfundenden Morgenwolken als Auftrieb für seine Flügel benutzt und letztlich auf der Suche nach Beute ist.
  • Letztlich bedeutet es, dass der eigene Gesang als majestätisch empfunden wird mit dem Ziel der Beute, ganz gleich, was das bei einem Lied bedeuten mag. Auf jeden Fall soll am Ende etwas Positives da sein, ein Ergebnis, mit dem man sein Leben gestalten beziehungsweise sichern kann.
2. Strophe
Denn ein Gott hat
Jedem seine Bahn
Vorgezeichnet,
Die der Glückliche
Rasch zum freudigen
Ziele rennt;
  • Die erste Hälfte der zweiten Strophe bringt dann die Begründung für den Wunsch, nämlich eine gewisse innere Notwendigkeit, entsprechende Ziele zu verfolgen.
Wem aber Unglück
Das Herz zusammenzog,
Er sträubt vergebens
Sich gegen die Schranken
Des ehernen Fadens,
Den die doch bittre Schere
Nur einmal löst.
  • Die zweite Hälfte der zweiten Strophe präsentiert das Negative Gegenmodell eines unglücklichen Wesens.
  • Kennzeichnend für seine Situation ist der Zustand des Unglücks und des hoffnungslosen Kampfes gegen die Bestimmung seines Daseins.
  • Die letzten beiden Zeilen können verstanden werden als die einzige Möglichkeit der Befreiung, die einem solchen Wesen noch bleibt, nämlich der Tod.
3. Strophe
In Dickichtsschauer
Drängt sich das rauhe Wild,
Und mit den Sperlingen
Haben längst die Reichen
In ihre Sümpfe sich gesenkt.
  • Die dritte Strophe wendet sich dann dem Wild zu und damit wohl dem Bereich der potentiellen Opfer einer erfolgreichen Jagd.
  • Für sie ist kennzeichnend, dass sie sich möglichst verbergen müssen.  Die Verbindung von Dickicht und Schauer soll wohl die gefährdete Situation dieser Tiere deutlich machen.
  • Der Rest der Strophe ist etwas schwer zu verstehen. Am ehesten ergibt sich noch einen Sinn, wenn man die Sümpfe hier als sichere Orte versteht, auch wenn man das weder für Sperlinge noch für reiche Menschen so einfach nachvollziehen kann.
4. Strophe:

Leicht ist's, folgen dem Wagen,
Den Fortuna führt,
Wie der gemächliche Troß
Auf gebesserten Wegen
Hinter des Fürsten Einzug.
  • Diese Strophe bringt dann eine weitere Variante glücklichen Lebens, die denen gegeben ist, die im Gefolge von mächtigen Leuten ihr Leben verbringen können.
5. Strophe
Aber abseits wer ist's?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.
  • Wie in der Strophe oben kommt jetzt die negative Variante der Menschen, die sich "abseits" ins "Gebüsch" schlagen müssen und von denen nichts übrig bleibt.
  • Als Leser kann man hier den Bogen zurückschlagen zur ersten Strophe, in der das Lied des Sängers oder Dichters ja gerade mehr bietet als einfaches Verschwinden im Nichts.
6. Strophe:
Ach, wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank?
Erst verachtet, nun ein Verächter,
Zehrt er heimlich auf
Seinen eignen Wert
In ungnügender Selbstsucht.
  • Die sechste Strophe skizziert das Bild eines Menschen, dem aus Balsam, also etwas Gutem oder sogar Heilendem, das Gegenteil, nämlich Gift geworden ist.
  • Das wird dann in den nächsten Zeilen etwas konkretisiert, denn bei einem solchen Menschen ist der "Fülle der Liebe" zu "Menschenhass" geworden ist, ganz gleich aus welchem Gründen.
  • Ein zweites Kennzeichen ist, dass dieser Mensch erst verachtet worden ist und dann selbst ein Verächter geworden ist.
  • In den letzten drei Zeilen wird das Ergebnis beschrieben, nämlich eine langsame Selbstvernichtung – und es wird auch so etwas wie Kritik im Sinne von Ursachenforschung betrieben, mit dem Hinweis auf eine Selbstsucht, die den Menschen nicht genug gegeben hat.
7. Strophe
Ist auf deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden
In der Wüste!
  • Die nächste Strophe wendet sich dann wohl an eine höhere Gewalt, die als "Vater der Liebe" begriffen wird.
  • Gewünscht wird "ein Ton", der zum einen verständlich ist und zum anderen das eigene Herz erquickt, also in einen besseren Zustand versetzt.
  • Diese Hoffnung wird dann in einem Bild konkretisiert, das aus dem Wunsch besteht, den eigenen "umwölkten", also beschränkten und verdunkelten Blick zu erweitern und dabei "tausend Quellen" sichtbar zu machen, die jemand, der in der Wüste durstig ist – und so versteht sich das lyrische ich hier – dringend braucht.
8. Strophe
Der du der Freuden viel schaffst,
Jedem ein überfließend Maß,
Segne die Brüder der Jagd
Auf der Fährte des Wilds
Mit jugendlichem Übermut
Fröhlicher Mordsucht,
Späte Rächer des Unbills,
Dem schon Jahre vergeblich
Wehrt mit Knütteln der Bauer.
  •  Die nächste Strophe konkretisiert dann die Vorstellung von dieser mächtigen Instanz, die offensichtlich alles bereitstellt, was dieses Wesen braucht. Sehr deutlich sind die Bezüge zu dem Jagdvogel am Anfang. Es geht also letztlich um Beute.
  • Schon sehr gewagt ist es dann wohl, wenn nicht nur von "jugendlichem Übermut" die Rede ist, sondern sogar von "fröhlicher Mordsucht". Dass die Jäger von Wild leben, ist ja noch verständlich. Aber muss das gerade mit "fröhlich" verbunden werden? Das hört sich ein bisschen nach einer Spaßvariante des Darwinismus an. Auf jeden Fall scheint es nicht weit entfernt von Mordlust zu sein.
9. Strophe:
Aber den Einsamen hüll
In deine Goldwolken!
Umgib mit Wintergrün,
Bis die Rose wieder heranreift,
Die feuchten Haare,
O Liebe, deines Dichters!
  • Die nächste Strophe verändert völlig die Szenerie. Jetzt geht es nicht mehr um Jagdvögel, die oben in der Luft nach Beute suchen,
  • Sondern es geht um "den Einsamen", also anscheinend den Unglücklichen, der sich weiter oben seitlich in die Büsche schlagen musste.
  • Der soll jetzt nicht mehr einfach verschwinden, sondern in anscheinend göttliche "Goldwolken" gehüllt werden und auch im Winter noch etwas Grünes, also Lebendiges vorfinden.
  • Zielvorstellung dieser Zeitreise ist dann der Frühling, wenn "die Rose wieder heranreift".
  • Worauf die "feuchten Haare" sich beziehen, bleibt dunkel. Möglicherweise ist damit gemeint, dass das lyrische Ich sich wieder allen Bereichen der Natur, auch dem Wasser problemlos hingeben kann. Das ist ja im Winter kaum möglich.
  • Aus dem Vater der Liebe der Strophe weiter oben ist nun die Liebe selbst geworden, was man sicherlich als eine Steigerung verstehen kann.
10. Strophe:
Mit der dämmernden Fackel
Leuchtest du ihm
Durch die Furten bei Nacht,
Über grundlose Wege
Auf öden Gefilden;
Mit dem tausendfarbigen Morgen
Lachst du ins Herz ihm;
Mit dem beizenden Sturm
Trägst du ihn hoch empor;
Winterströme stürzen vom Felsen
In seine Psalmen,
Und Altar des lieblichsten Danks
Wird ihm des gefürchteten Gipfels
Schneebehangner Scheitel,
Den mit Geisterreihen
Kränzten ahnende Völker.
  • Die nächste Strophe präsentierten positive Folgen oder auch Erscheinungsformen der Liebesstätigkeit dieses Vaters:
  • Zum einen geht es um Licht und Schutz auf den eigenen Wegen,
  • Dann geht es um einen guten, lustvollen Start in den Tag,
  • Dann um einen stürmischen Aufschwung in Aktivitäten hinein
  • Und alles, was sonst zu Mühsal wird oder Gefahr, wird diesem Günstling der Götter zu etwas Positivem.
  • Das lyrische Ich sieht sich hier so als eine Art Höhepunkt all dessen, worauf die Gesänge früherer Völker hingearbeitet haben.
12. Strophe:
Du stehst mit unerforschtem Busen
Geheimnisvoll offenbar
Über der erstaunten Welt
Und schaust aus Wolken
Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,
Die du aus den Adern deiner Brüder
Neben dir wässerst.
  • Die Schlussstrophe konkretisiert dann noch etwas das Bild dieses wohl göttlichen Vaters der Liebe,
  • Er ist gekennzeichnet durch unerforschte Geheimnisse
  • und die Bereitstellung all dessen, was Leben fruchtbar macht.


Insgesamt zeigt das Gedicht
  1. Ansätze von Zerrissenheit zwischen Glücklichsein und Sich- elend-fühlen,
  2. aber auch eine unbändige Energie, sich mit Bitten an eine geahnte höhere Gewalt zu wenden
  3. und sich in eine Welt intensiven Lebens hineinzufantasieren.
  4. Es ist in seiner Gefühlsintensität und der letztlich doch positiven Gewissheit des eigenen Könnens und der eigenen Bedeutung ein typisches Gedicht des Sturm und Drang.
  5. Das lyrische ich ist sich letztlich sicher, alles erjagen zu können und glücklich zu werden und dementsprechend auf der richtigen Seite des Lebens zu stehen.

Beispiel für eine aus Schulsicht "extrem" wissenschaftliche, ansonsten sehr interessante Interpretation des Gedichtes von Malte Stein

Zunächst eine Vorbemerkung:

"Extrem" wissenschaftlich ist für uns keine negative Wertung, sondern einfach der Hinweis darauf, wieviel Kenntnisse und methodische Fähigkeiten auch in einer Wissenschaft wie der Germanistik zu finden sind. In gewisser Weise ist das die Champions-League im Bereich des Interpretierens - und man kann nur sagen "Alle Achtung!"

Zu finden ist der Text im Internet hier.

Was die Schule angeht, sollte man sowieso erst mal möglichst immer "naiv" an literarische Texte herangehen - denn das ist die Ebene, auf der Autoren und Leser sich eigentlich treffen sollten.
Darüber hinaus gibt es die Liebhaber, die sich bei ihrem Schriftsteller besonders gut auskennen.
Und dann gibt es eben Leute, die ganz tief einsteigen in die literarischen Texte unter Einbeziehung ihres Kontextes.

Damit sollte man sich in der Schule nicht vergleichen und auch nicht messen - sondern es machen wie ein Hobby-Fußballspieler, der sich auch Spiele auf höchstem Niveau anschaut, ohne von sich zu verlangen, das auch selbst zu können.

Wichtig ist auf jeden Fall, dass man in der Schule lernt, auch mit solchen Texten umzugehen - und zumindest einiges an Erkenntnissen auch für sich selbst dabei herauszuholen.

Unsere Auswertung der wissenschaftlichen Interpretation findet sich hier.
https://www.schnell-durchblicken2.de/goethe-harzreise-im-winter-malte-stein

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