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Abschlussfehler in Lessings "Nathan der Weise"


Lessing, "Nathan der Weise" - es ist nicht alles Gold ... Abschlussfehler gibt es auch in einem Klassiker

Das Video ist hier zu finden:
https://youtu.be/sKTam30Vbvg
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Lars Krüsand,

Es ist nicht alles Gold, was Klassiker ist ...
  1. Das Besondere an Klassikern  ihr Glanz, aber auch die damit verbundene Gefahr
    Lessings Drama „Nathan der Weise“ ist ein Klassiker, also ein Werk, das als besonders gut angesehen wird und auch weit über den Tod des Autors hinaus seine Bedeutung behält.
  2. Das Schöne an den Klassikern ist, dass sie bewundert werden, ohne dass im Einzelnen noch genau hingeschaut wird. Sie funktionieren häufig wie eine Schublade, man glaubt zu wissen, was drin ist.
  3. Das wiederum öffnet Spielräume für besonders intelligente Schüler. Mit Intelligenz ist hier gemeint, dass sie genauer lesen und hineinschauen und sich ihre eigenen Gedanken machen.

  4. Fall 1: Eine kleine Unstimmigkeit in der Ringparabel
    Beginnen wir mit der so genannten Ringparabel, dem Prunkstück des Dramas. Wenn man irgendwas von Nathan dem Weisen kennt, dann ist es diese Geschichte. Mit ihr versucht der Jude Nathan der gefährlichen Frage des Saladins - immerhin als Sultan Herr über Leben und Tod -  auszuweichen, welche der drei großen Religionen (in historischer Reihenfolge: Judentum, Christentum, Islam) denn nun die beste ist.
  5. Die Religionen mit Ringen zu vergleichen, die angenehm machen, ist eine schöne Idee. Nur gibt es in der Geschichte das Problem, dass einer der Ringe ja wirklich echt ist. Warum wirkt er nicht mehr als die anderen? Zunächst einmal macht Lessing über Nathan ja eine Einschränkung, man muss die Zuversicht haben, dass er wirkt. Und die haben die drei Brüder wohl im Moment des Streits nicht – ihnen geht es in dem Moment um Rechthaben und Macht. Deshalb brauchen sie am Ende die Ermahnung des Richters, sich wieder um die Kerneigenschaft des Ringes zu kümmern. Allerdings bleibt letztlich die Geschichte an dieser Stelle schief, denn auch bei allseitigem Bemühen müsste ja ein Ring gewissermaßen zusätzlichen Schub geben.

  6. Fall 2: Liebe spielt für Lessing keine große Rolle
    Kommen wir zu einem zweiten Problem des Dramas, das in Interpretationen kaum behandelt wird. Da gibt es einen Film, in dem ein gerade verheiratetes Ehepaar plötzlich damit konfrontiert wird, dass sie Halbgeschwister sind. Ihre Eltern waren vor langer Zeit mal kurz zusammen gewesen, hatten sich dann aber aus den Augen verloren. Jetzt treffen sie sich wieder und die Erkenntnis ist erschreckend: Die Kinder können ihre Ehe wegen des jetzt wahrscheinlich gegebenen Inzestes („Blutschande“) nicht aufrechterhalten. In dem Film hat sich dann doch glücklicherweise herausgestellt, dass sie nicht so eng verwandt waren. Aber in Lessings Drama ist es am Ende noch viel schlimmer. Der Tempelherr, dem seine Liebe zu Recha inzwischen bewusst geworden ist und diese Frau dementsprechend heiraten möchte, hat sie nun plötzlich als Schwester vor sich. Mit welcher Leichtigkeit Lessing am Ende die Beteiligten sich gegenseitig in die Arme sinken lässt, ist schon unglaublich. Entweder hat der Mann keine Ahnung von der Liebe oder ihm ist die Botschaft des Dramas so wichtig, dass menschliche Gefühle nicht mehr zählen.

  7. Fall 3: Ein Bruder, der mal eben zum Verräter wird
    Und dann ist da noch dieser Assad, der war ja angeblich tot und wurde von seiner Schwester bis in den eigenen Tod hinein vermisst, ist aber anscheinend zum Christentum übergetreten, hat zwei Kinder in die Welt gesetzt und ist erst später als Kreuzritter im Kampf gegen die ehemaligen eigenen Leute umgekommen. Eigentlich eine unglaubliche Geschichte von Verrat und Unehrlichkeit. Aber auch hier für den Aufklärer Lessing und seine Konstruktionsnotwendigkeiten für das Drama kein Problem.

  8. Nathan als "Überwältiger"
    Es gibt noch eine weitere Stelle, die zwar nicht so zentral ist, aber auch ihre Bedeutung hat. Da erzählt Recha ihrer neuen Freundin Sittah, der Schwester des Sultans, wie sie zu all ihrem Wissen und ihren Erkenntnissen gekommen ist. Sie hat alles von ihrem vermeintlichen Vater, nämlich diesem Nathan. Dem reichte anscheinend die eigene Weisheit, um sie an seine Pflegetochter weiterzugeben. Damit bindet er sie zum einen ganz eng an sich (das nimmt ja im Drama teilweise schon extreme Züge an), zum anderen nimmt er ihr aber auch die Möglichkeit, selbst in Büchern zu lesen und sich damit eine eigene Meinung zu bilden. Auch das scheint dem Aufklärer Lessing egal zu sein, er lässt Sittah das Ganze sogar noch positiv bewerten, nach dem Motto: Wenn man persönlich von jemandem eine Wahrheit übermittelt bekommt, geht sie besonders tief in die Seele. Das ist aber genau das Kernproblem der Indoktrination. Deshalb gibt es in der Schule zum Beispiel im Fach Politik das sogenannte „Überwältigungsverbot“. Der Lehrer soll gerade nicht – wie Nathan  - seine persönliche Autorität mit ganz bestimmten Meinungen verbinden, die Schüler dann ungeprüft übernehmen (müssen).

  9. Zum guten Schluss: Einfach selbst mal ausprobieren und schauen, wo auch große Dichter mal ein bisschen schwächeln
    Wir hoffen, dass an diesen Beispielen deutlich geworden ist, wie viel Spaß es machen kann, Literatur im Deutschunterricht auch mal mit eigenen Augen zu lesen und kritisch zu durchdenken. Klassiker können noch so schön sein und ein noch so hohes Ansehen genießen, auch sie sind von Menschen gemacht und deshalb nicht von Fehlern oder Mängeln frei. Aber eine gute Schule dient eben nicht der Anbetung, sondern dem, was Goethe „Anverwandlung“ genannt hat. Man nimmt das Gute auf, aber so, wie und soweit es einen selbst überzeugt.

    © schnell-durchblicken.de


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