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Heine, "Verdrossnen Sinn..." als Reisegedicht


Heinrich Heine, "Verdrossnen Sinn im Herzen" - als Reisegedicht interpretiert

Hier geht es um ein Gedicht von Heinrich Heine, aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Bezügen zur Romantik, das auf den ersten Blick nicht viel Bedeutsames zu enthalten scheint.
Wir zeigen hier, dass doch eine Menge drinsteckt.

Zunächst geht es um die äußere Form des Gedichtes sowie die Klärung des Inhalts.

Heine, "Verdrossenen Sinn": Äußere Form des Gedichtes und Erläuterung des Inhalts

Heinrich Heine

Verdrossnen Sinn im kalten Herzen hegend,
Reis’ ich verdrießlich durch die kalte Welt,
Zu Ende geht der Herbst, ein Nebel hält
Feuchteingehüllt die abgestorbne Gegend.

Die Winde pfeifen, hin und her bewegend
Das rote Laub, das von den Bäumen fällt,
Es seufzt der Wald, es dampft das kahle Feld,
Nun kommt das Schlimmste noch, es regen’t.

(1827)

Äußere Form:
  • Zwei Strophen
  • fünfhebiger Jambus,
  • Durchgängig umarmender Reim,
  • entsprechendder Wechsel von weiblichem und männlichen Verschluss
Erste Strophe
Verdrossnen Sinn im kalten Herzen hegend,
Reis’ ich verdrießlich durch die kalte Welt,
Zu Ende geht der Herbst, ein Nebel hält
Feuchteingehüllt die abgestorbne Gegend.

  • Die ersten beiden Verszeilen beschreiben die Situation des lyrischen Ichs.
  • Bezeichnend sind zwei negative Kennzeichnungen seines Gemütszustandes:
    • Das Lyrische Ich ist verdrossen, d.h. es hat schlechte Laune. Meistens hat man das aufgrund von bestimmten Erfahrungen. Wenn etwas im Laufe eines Tages immer mehr schief läuft, dann ist man verdrießlich.
  • Außerdem schreibt das lyrische Ich sich selbst ein kaltes Herz zu,
    • Das ist im Gegensatz zum ersten Punkt sehr viel weitergehender, beschreibt eine grundsätzliche Befindlichkeit des Inneren.
    • Wenn man ein kaltes Herz hat, kann man nicht mehr gut fühlen, man reagiert auch nicht auf Impulse, vor allem nicht auf zum Beispiel das Leiden anderer. Ein Mensch mit einem kalten Herzen reagiert zum Beispiel nicht auf Menschen mit Not.
  • Wichtig ist aber der Zusammenhang zwischen dem kalten Herzen und der kalten Welt. Es spricht einiges dafür, dass das erste eine Folge des zweiten ist.

Verdrossnen Sinn im kalten Herzen hegend,
Reis’ ich verdrießlich durch die kalte Welt,
Zu Ende geht der Herbst, ein Nebel hält
Feuchteingehüllt die abgestorbne Gegend.

  • In den Verszeilen drei und vier erweitert sich dann der Blick auf die Jahreszeit und ihre Auswirkungen auf die Natur.
  • Der Herbst ist ja gemeinhin die Jahreszeit, in der man sich von der schönen Zeit des Sommers verabschieden muss und in der langsam der Winter als Zeit der Ruhe und auch des Abgestorbenseins der Pflanzen naht.

Zu Ende geht der Herbst, ein Nebel hält
Feuchteingehüllt die abgestorbne Gegend.

  • Dementsprechend präsentiert sich auch die Natur, nämlich als ein feuchter Nebel, der die „abgestorbne Gegend“ einhüllt wie ein Leichentuch.
  • Damit wird der Gedanke des Todes, der mit dem Herbst verbunden ist, im Gedicht ausdrücklich aufgenommen.

Die Winde pfeifen, hin und her bewegend
Das rote Laub, das von den Bäumen fällt,
Es seufzt der Wald, es dampft das kahle Feld,
Nun kommt das Schlimmste noch, es regen’t.


  • Die ersten Verszeilen der zweiten Strophe gehen dann weiter auf die Natur ein, wie sie für diese Jahreszeit typisch ist.
  • Es gibt dort viel Wind und der sorgt noch für eine Art Scheinleben, nämlich eine Bewegung der Blätter, die aber nur darin besteht, dass sie fallen und später verfaulen.

Es seufzt der Wald, es dampft das kahle Feld,
Nun kommt das Schlimmste noch, es regen’t.

  • Die zweitletzte Zeile überträgt dann die Gefühle des lyrischen Ichs auf den Wald, der "seufzt" angesichts des realen Verfalls.
  • Das Feld ist entsprechend der Jahreszeit kahl, was zu „abgestorben“ passt. Es dampft zwar, aber es ist eben ein unlebendiger Dampf, wohl auch eine Art Nebel, der auf Temperaturunterschieden beruht.
  • Am Ende dann ein Blick in die unmittelbare Zukunft.
    • Zu all dem, was das lyrische Ich aktuell bedrückt, kommt jetzt auch noch Regen, d.h. man wird unmittelbar betroffen von der Natur.
  • Interessant ist, dass das natürlich nichts mehr speziell mit der Jahreszeit zu tun hat. Sondern es kommt jetzt etwas Unangenehmes hinzu, was jeder Wanderer als eher negativ empfindet, unabhängig von der Jahreszeit. Hier ist es eine Art krönender Abschluss all des Negativen, was das lyrische Ich wahrnimmt und fühlt.



Im zweiten Schritt geht es um die Klärung des Themas des Gedichtes. Darunter verstehen wir immer eine Fragestellung. Auf diese gibt dann die sogenannte '"Aussage" oder "Intention" des Gedichtes eine Antwort.
Bei einem literarischen Text, also auch einem Gedicht, zählt dabei für den Leser nur das, was im Text steht.
Was der Autor sich vielleicht dabei gedacht hat, ist eine Frage für seine Freunde bzw. für Fachleute (Germanisten).

Heine, "Verdrossenen Sinn": Frage des Themas und Klärung der Aussage bzw. Intention


Das Gedicht im Zusammenhang mit dem Thema unterwegs sein:

Verdrossnen Sinn im kalten Herzen hegend,
Reis’ ich verdrießlich durch die kalte Welt,
Zu Ende geht der Herbst, ein Nebel hält
Feuchteingehüllt die abgestorbne Gegend.

Die Winde pfeifen, hin und her bewegend
Das rote Laub, das von den Bäumen fällt,
Es seufzt der Wald, es dampft das kahle Feld,
Nun kommt das Schlimmste noch, es regen’t.

  1. Zunächst zur Frage des Themas: Hier entscheiden wir uns für die "Situation eines Menschen im Herbst" - inwieweit man das auf alle Menschen übertragen kann, ist eine Frage, die der Leser für sich beantworten muss.
  2. Die Antwort, die das Gedicht auf diese Frage gibt ("Aussage" oder "Intention") , ist, dass die Welt im Herbst kalt, ja tot erscheint und dass das auch auf den Menschen abfärbt. Am schlimmsten ist es dann, wenn die jahreszeitlichen Elemente noch durch solche verstärkt werden, die einen schon im ganzen Jahr immer wieder aufregen.
    ---
  3. Was den speziellen Aspekt des Reisens angeht:
    So gibt es bereits in der zweiten Verszeile einen ganz klaren Hinweis auf das Reisen, das lyrische Ich ist also nicht in seinem heimischen Umfeld und damit auch getrennt von der damit verbunden Geborgenheit.
  4. Das bedeutet letztlich, dass beim Reisen das, was einen auch zu Hause schon stört, nämlich die allgemeine Entwicklung der Jahreszeiten, hier noch konkret verstärkt wird durch etwas, was man eben nur als Reisender in seiner ganzen Unannehmlichkeit ertragen muss.
  5. Unklar bleibt beziehungsweise offen gelassen wird, warum das lyrische Ich bereits am Anfang verdrossen bist und ein kaltes Herz hat.
  6. Alles spricht aber dafür, dass sich das bereits als Ergebnis der Erfahrungen mit dieser Jahreszeit und ihren Auswirkungen auf die Natur ergeben hat.
  7. Allenfalls das kalte Herz kann einen nachdenklich stimmen, denn das Herz steht ja für die innerste Substanz eines Menschen. Und da ist doch sehr die Frage, ob alle Menschen so reagieren müssen, wenn die Umgebung entsprechend so ist.
  8. Oder ob nicht andere vielleicht auch in einer solchen Situation und Umgebung andere Herzensgefühle haben können.

Heine, "Verdrossenen Sinn": Die Frage des Sinns des Gedichts und der Bedeutung für uns heute

In einem dritten Schritt geht es dann um das, was man als Leser mit dem Gedicht "anfangen" kann.
Denn Kunst entsteht ja immer im "Auge des Betrachters" - und das gilt auch für Gedichte.
Das wären dann auch bereits Anregungen für eine Auswertung dieses Gedichtes im Zusammenhang mit dem Thema „Unterwegs sein“ oder „Reisen“.
  1. Man kann allerdings auch darüber hinaus fragen, inwieweit die Umgebung das Innere eines Menschen berühren, beeinflussen kann.

  2. Die zweite Frage, inwieweit äußere Umstände das Innere eines Menschen überhaupt beeinflussen, geht natürlich über das Thema „Unterwegs sein“ deutlich hinaus. Es sei denn man versteht "unterwegs sein" in einem übertragenen Sinne, nämlich als Unterwegssein im Wechsel der Jahreszeiten und darüber hinaus letztlich auch in den natürlichen Phasen des Lebens.
  3. Wer mit älteren Menschen spricht, merkt deutlich, dass der Herbst des Lebens eine besondere Herausforderung darstellt, was die Einstellung zu sich selbst und zum Leben angeht. Denn auch bei einem Menschen fallen im Verlaufe des Lebens immer mehr die Blätter, pfeifen die Winde und manchmal beginnt es eben auch zu regnen.
  4. Wenn man sich dafür interessiert, kann man natürlich die Frage stellen, inwieweit und dann auch warum und wie es Menschen gelingt, auch in solchen unangenehmen äußeren Situationen, sei es des Reisens, des Wetters oder auch des Lebens trotzdem sich gewissermaßen ein sonniges Gemüt zu bewahren.

  5. Gegebenenfalls könnte man auch noch selbstkritisch die Frage stellen und klären, inwieweit hier „überinterpretiert“ worden ist oder ob nicht etwas mit dem Gedicht gemacht wird, was aufgrund seiner Offenheit und seines Anregungspotenzials ganz natürlich ist.
  6. Das Problem besteht nur darin, dass der Deutschuterricht natürlich eine Zwangssituation mit Bewertungsziel präsentiert, was den spielerischen, locken, kreativen Umgang mit Literatur erschwert, behindert oder manchmal auch unmöglich macht.
  7. Gerade jemand wie Heinrich Heine kann hier möglicherweise die Schwerpunktsetzung und die Perspektive verändern.


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