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Tieck, "Erster Anblick von Rom"


Ludwig Tieck, "Erster Anblick von Rom"

Dieses Gedicht ist besonders interessant, weil es sich mit einem besonderen Problem einer jeden Reise beschäftigt: Je mühseliger und langwieriger der Weg zum Ziel und je mehr Sehnsucht sich dabei aufbaut, desto größer ist die Gefahr der Enttäuschung. Aber dieses Gedicht weiß am Ende einen Ausweg aus diesem Dilemma.

Hinweis auf das Youtube-Video

Auf Youtube gibt es ein Video zu diesem Projekt, das man gut als Übung nutzen kann.

Zu finden ist es unter der Adresse:

Videolink

https://youtu.be/jNY-eBdQuOM

Die "Kapitel"-Einteilung:

  • 0:00 Hinweise zur Aufgabe
  • 2:05 Hinweise auf Kapitel-Anzeige
  • 3:10 Text mit drei Aufgaben
  • 3:50 Pausen-Möglichkeit
  • 3:55 Lösungsweg: Check der Strophen
  • 6:10 Deutungshypothese
  • 6:35 Themenformulierung
  • 6:45 Intentionalität (Aussagen)
  • 7:45 Hinweis auf Dokumentation
Video-Dokumentation herunterladen

Thema und Deutungshypothese

  • Ein Thema sollte immer eine Frage- oder Problemstellung enthalten. Entweder liest man das Gedicht einmal sorgfältig und versucht dann das Thema schon mal vorläufig zu formulieren - und korrigiert das ggf. später. Oder aber man lässt diese Stelle in einer Klausur erst mal frei und füllt es später.
    Eine Hilfe kann sein, wenn man beginnt mit: "Das Gedicht ... beschäftigt sich mit der Frage ..."
    und dann zum Beispiel ergänzt,
    "wie es einem Menschen gehen kann, der mit hohen Erwartungen am Ziel seiner Träume ankommt.
  • Bei der Deutungshypothese ist es schon klarer, dass man erst mal einfach vorläufig versucht zu bestimmen, worauf das Gedicht hinausläuft, welche Aussage und ggf. auch welche Bedeutung es haben kann.
    In diesem Falle könnte man formulieren - in Erweiterung der Themenformulierung:
    "Das Gedicht behandelt die Frage ... und läuft auf die Erkenntnis hinaus, dass je höher die Erwartungen vorher gewesen sind, desto schneller eine Enttäuschung eintreten kann."
    Ggf. kann man hier schon ergänzen, dass es offen bleibt, ob es sich um eine Kurzzeit-Enttäuschung handelt, die man häufig durchmachen muss, wenn man mit Reiseführer-Erwartungen an einen Ort kommt, oder ob tatsächlich die ewige Stadt Rom nicht jedem etwas in so hohem Maße schenken muss, ohne dass es sich dabei um fehlende Bereitschaft intensiver Wahrnehmung handelt.
    Denn natürlich ist jedes Kulturgut auch einer Veränderung der Wahrnehmung und Bewertung ausgesetzt, vor allem, wenn es vielleicht zu sehr Opfer des Tourismus geworden ist.

Mit dem Titel verbundene Vor-Erwartungen

  • Entscheidend ist hier natürlich, wieviel man weiß von der Bedeutung, die Rom für Schriftsteller um 1800 gehabt hat und in vielerlei Hinsicht bis heute noch hat.
  • Rom ist natürlich zunächst der Inbegriff des Römischen Weltreiches, seiner Kultur und Geschichte.
  • Die meisten Menschen verbinden damit das Forum, das Kolosseum und vieles mehr.
  • Für alle, die einen Bezug zum Christentum haben - und das waren um 1800 die meisten - kommt natürlich der Petersdom hinzu.
  • Dann mögen manche auch an die italienischen Reisen verschiedener Schriftsteller denken, wobei Goethe bestimmt an erster Stelle steht.
  • Bei all dem ist es naheliegend, Rom mit fast magischen Erwartungen zu verbinden, vor allem, was den ersten Blick auf die Ewige Stadt angeht, die man damals nach einer langen Reise zu Fuß erreichte.

1. Strophe, Teil 1

Lange schon starrte mein Blick

Hinaus in Flur und Hügel,

Und immer nicht erschien der Wunsch,

Der sehnsüchtigen Seele.

Stille Träumerei umhüllte den Geist,

  • Die ersten beiden Zeilen präsentieren einen Rückblick auf die Situation eines Menschen, der auf dem Weg nach Rom ist.
  • Hervorgehoben wird das Warten und zwar in der Weise, das vom "Starren" in die Rede ist. Das ist eine Form des Sehens, die auf eine negative Art und Weise fixiert ist. Man blickt ganz intensiv und sieht doch eigentlich nichts beziehungsweise kommt zu keinem Ergebnis des Sehens.
  • In diesem Fall erscheinen nur "Flur und Hügel" im Blick, gewissermaßen das Einerlei einer Landschaft.
  • Die Zeilen drei und vier deuten dann an, was das Lyrische Ich eigentlich sehen möchte - aber nur in der Form der Sehnsucht, auf irgendwelche Inhalte wird nicht eingegangen.
  • Die letzte Zeile kann man so verstehen, dass das Lyrische Ich, vom Äußeren enttäuscht, sich in seinen Träumen als Zielvorstellungen zuwendet.


1. Strophe, Teil 2

Da wendet sich plötzlich der Weg,

Und rechts erscheint der hohe Petrus-Dom,

Des Vatikans Pallast,

Und fern umher gestreut wie Hütten,

Die weltberühmte Stadt.

  • Der zweite Teil der ersten Strophe bringt dann die positive Veränderung. Im Zentrum des Sehens erscheint auch das Zentrum der Stadt mit zwei Elementen, Dom und Palast des Papstes.
  • Von dort aus wendet sich der Blick dann dem Rest der Stadt zu, der dem Lyrischen Ich aber im Vergleich dazu nur wie "Hütten" (hier als Bezeichnung für sehr einfache Behausungen, um den Kontrast zu betonen) vorkommt.


2. Strophe, Teil 1

So ist der weite Weg nun überwunden,

Und endlich, endlich ist das erwünschte Ziel erschienen?

  • Die ersten beiden Zeilen der zweiten Strophe fassen dann das Gefühl des Lyrischen Ichs zusammen, endlich am Ziel zu sein.
  • Hervorgehoben werden die Weite des Hinwegs und damit auch die verstrichene Zeit, was noch einmal den Einstieg der ersten Strophe aufnimmt. Dann wird durch die Wiederholung des Wortes "endlich" das Gefühl hervorgehoben, dass das Warten und die damit verbundenen Leiden endlich zu Ende sind.


2. Strophe, Teil 2

Und wie ich mich sammle,

Mich und die Größe des Momentes zu fühlen,

Zerrinnt in Schmerz

Das kaum gehaschte Bild,

Und alle die alten edlen Erinnrungen

Entfliehn vor der drückenden, engen Gegenwart.

Wie klein ist der Mensch,

Wie arm im Schein des Reichthums!

  • Der zweite Teil der zweiten Strophe bringt dann eine Überraschung, nämlich eine Art Enttäuschung.
  • Die kann sicherlich jeder nachvollziehen, bei dem sich auch die Erwartungen an das Ziel immer mehr und dann auch so gesteigert haben, dass die Realität dem inneren Bild (siehe Träume oben) nicht entsprechen kann.
  • Das lyrische Ich setzt hier drei Akzente, 
  • Zum einen das Zerrinnen des schönen Bildes bis hin zum Schmerz.
  • Dann das Verschwinden der "alten edlen Erinnrungen" angesichts der "drückenden, engen Gegenwart".
  • Man merkt hier deutlich, auf welcher anderen Ebene die Vorstellungen vor der Reise ausgesehen haben.
  • Auch wird deutlich, dass sie nicht nur "alt" und "edel" waren, sondern auch befreit haben aus der Enge der damals empfundenen Wirklichkeit. Man hat sich gewissermaßen in eine schönere, bessere Welt hinausgeträumt.
  • Am Ende dann das Gefühl der Kleinheit des Menschen, der seine Armut spürt im "Schein des Reichthums".
  • Interessant ist hier, wie negativ die Vorgefühle gesehen werden. Es wird nur der aktuell deutlich gewordene "Schein" gesehen - erstaunlich unromantisch im Hinblick auf Gefühle, die zumindest real gewesen sind. Wieso soll das Sich-Hineinträumen in eine schönere Welt nicht auch einen Wer haben.



Kleiner Exkurs: Anregung zu einem Referat: Vergleich Tieck-Eichendorff

  • Das könnte ein interessanter Ausgangspunkt sein für ein Referat, bei dem untersucht wird, was Tieck zum Beispiel von Eichen dorff unterscheidet.
    In dem Zusammenhang könnte die folgende Seite hilfreich sein:
    
    https://www.schnell-durchblicken2.de/unt-tieck-sehnsucht
  • Interessant ist sicher auch, was Eichendorff selbst in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands von Tieck wiedergibt:
    http://www.zeno.org/Literatur/M/Eichendorff,+Joseph+von/Essay/Geschichte+der+poetischen+Literatur+Deutschlands/Zweiter+Teil/7.+Die+neuere+Romantik/Tieck
    "Schon früh«, sagt er, »in jener Zeit, wenn die meisten Menschen fast unbewußt ihrer Jugend froh genießen, führte mich mein Gemüt zu den ernstesten und finstersten Betrachtungen. Unbefriedigt von dem Unterrichte, den ich von Lehrern und Büchern erhielt, versenkte sich mein Geist in Abgründe, die zu durchirren und kennenzulernen wohl nicht die Aufgabe unseres Lebens ist."
    Hier hat Eichendorff wohl eine deutlich harmonischere Jugend erlebt - in der Sicherheit des christlichen Glaubens.
    



3. Strophe

Schon treten die Gebäude näher,

Schon heimathlicher wird Berg und Flur,

Von alten Gemälden

Erwacht in frischern Farben das Angedenken;

Hier schon die Brücke,

Die Straße der Vorstadt,

Und rascheren Trabes

Nähern wir uns dem Pappelthor.

Wir treten ein,

Vor mir der Platz und Obelisk,

Die drei Straßen mit offnen Armen,

Ein nüchternes Licht

Erhellt unerfreulich

Tempel und Pallast.

Ich kann mich nur trösten.

Nun schnell in den Armen

Geliebter Freunde

Der Klage Laut ertönen zu lassen.

  • Die letzte Strophe konkretisiert dann diesen Verfall des schönen Traums angesichts der Realität an mehreren Beispielen.
  • Interessant ist am Ende die Idee einer Rettung in der Gemeinschaft der Freunde


Überlegungen zu den Aussagen, der Intentionalität des Gedichtes

Das Gedicht zeigt:

  1. Die Sehnsucht auf einem langen Weg,
  2. das kurze Glück beim Erreichen des Ziels,
  3. die zunehmende Enttäuschung angesichts der Diskrepanz von Erwartung und Realität,
  4. schließlich die Hervorhebung eines positiv bleibenden Ankers, nämlich der Gemeinschaft der Freunde.
  5. Kreative Anregung: Man könnte jetzt noch eine Strophe hinzufügen, bei dir auch diese Hoffnung noch zerbricht, denn auch Freundschaft ist nicht immer etwas, was vor allem nach längerer Trennung alle Erwartungen beim Wiedersehen erfüllt


Kreative Anregung: Hinzufügen einer weiteren Strophe

Man könnte jetzt noch eine Strophe hinzufügen, bei der auch diese Hoffnung noch zerbricht, denn auch Freundschaft ist nicht immer etwas, was - vor allem nach längerer Trennung - alle Erwartungen beim Wiedersehen erfüllt

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Wichtig sind hier drei Dinge:

  1. Man muss natürlich erst mal eine Idee haben, in welche Richtung man das Gedicht weiter entwickeln will. Möglich ist hier vieles.
  2. So können die Freunde gleich zeigen, dass es ihnen aktuell weniger um Reiz und Größe der Stadt geht, sondern dass sie sich über den Freund freuen. Damit würden die letzten Zeilen des Gedichtes verstärkt, allerdings kommt es nicht mehr zur Klage, sondern zu einem feucht-fröhlichen Abend.
  3. Möglich ist aber auch, dass auch die Freunde dieses Anfangseindruck bestätigen, dann aber darauf hinweisen, dass man eben seine eigenen Entdeckungen machen muss - jenseits der Reiseführer-Vorgaben.
  4. Natürlich ist auch das Gegenteil möglich, dass es wohl zu einer Klage kommt, aber nicht, weil man selbst auch vom ersten Eindruck Roms enttäuscht worden ist, sondern weil man dem Freund Ignoranz vorwirft.
  5. Auf jeden Fall sollte man sich um einen inhaltlichen Anschluss bemühen, das wäre über die "Klage" aus der letzten Zeile gegeben.
  6. Außerdem sollte es vom Rhythmus und vom Tonfall passen. Am besten liest man sich die letzten Zeilen noch einmal laut vor und versucht dann, einfach weiterzumachen. Das könnte etwa so aussehen:

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Ich kann mich nur trösten.

Nun schnell in den Armen

Geliebter Freunde

Der Klage Laut ertönen zu lassen.

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Man merkt hier, dass der daktylische Ansatz mit zwei Senkungen nacheinander in den ersten beiden Zeilen dann nicht mehr fortgesetzt wird. Die dritte Zeile kann als Jambus gelesen werden. Die letzte beginnt ebenfalls jambisch, geht dann aber daktylisch weiter.

Eine Idee wäre, dann einfach komplett in den Daktylus zu wechseln, um deutlich zu machen, dass jetzt ja bald Harmonie herrscht.

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Doch kaum ist erreicht dann das Haus meiner Freunde,

zu Ende sind Kummer und Not.

Was willst du hier klagen, so heißt es voll Freude,

weil endlich zusammen sich findet,

was lange getrennt war.

Und wenn dann die Wunder, die jeder gefunden,

nachdem er sich Zeit nahm zum Rasten und Schauen,

lebendig werden im Ohr auch des Neulings,

da wird deutlich, dass "starren" kein Weg ist

zum Herzen der Dinge, die selbst ja nur harren,

dass jemand sie wahrnimmt wie kein andrer zuvor.




Möglichkeit des Vergleichs mit Gottfried Benn, "Reisen"

Wenn man Gottfried Benns Gedicht "Reisen" zum Vergleich heranzieht,

  • stellt man zunächst einmal fest, dass der Titel "Reisen" sehr viel allgemeiner das Thema angeht, als es Tieck mit seinem Blick auf die ewige Stadt Rom tut.
  • Dann wird in den Fragen an einen fiktiven Dialogpartner deutlich, dass hier nicht der Prozess einer Ent-Täuschung präsentiert wird, sondern eine Lebenserfahrung, die gewissermaßen die Summe aller Reisen und damit verbundenen enttäuschten Hoffnungen zieht.
  • Sehr gut zu Tiecks Gedicht passt natürlich die Verbindung von ""Wunder" und "Weihen", denn das ist sicher das, was das Lyrische Ich aus der Perspektive des frühen 19. Jahrhunderts erwartet.
  • Auch "ein ewiges Manna", also eine Art Himmelsbrot, von dem man ewig zehren kann, passt zu der Sehnsucht des Tieck-Gedichts.
  • Die "Leere", die in Benns Gedicht zum Problem wird, ist mehr ein Phänomen der Moderne, während zu Tiecks Zeit noch genügend Sinn im Leben vorhanden war, auch wenn eine Reisehoffnung einen enttäuschte. Das sieht man daran, dass ihm mit den Freunden sofort ein Ersatz in den Sinn kommt.
  • Allerdings ist am Ende doch von einer "Klage" die Rede - aber das läuft wohl eher auf ein gemeinsames Weinen hinaus - und das tut dann schon nicht mehr so weh. Benns Gedicht dagegen wirkt eher monologisch und auch ein bisschen egomanisch, denn am Ende ist es das "sich umgrenzende Ich", das als Zufluchtsort bleibt.

Kleiner Ausflug in die Germanistik: Tiecks Reisegedichte aus Italien

Wer mit dem Gedanken spielt, später mal Germanistik zu studieren, oder wer überhaupt mal wissen möchte, was die Wissenschaft vom Unterricht unterscheidet, der findet auf dieser Seite:

http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/tieck/adam_reisegedichte.pdf

einen Überblick über "Kleine Begebenheiten aus Italien. Ludwig Tiecks Reisegedichte", verfasst von Wolfgang Adam.

In diesem Zusammenhang wird auch auf das hier besprochene Gedicht von Ludwig Tieck eingegangen.

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Der Autor ist Literaturwissenschaftler an der Universität Osnabrück.
https://www.ikfn.uni-osnabrueck.de/institut/mitarbeiterinnen_und_mitarbeiter/prof_dr_wolfgang_adam.html

Weiterführende Hinweise

  • Ein alphabetisches Gesamtregister aller Infos und Materialien gibt es hier
    https://schnell-durchblicken3.de/index.php/uebersichten/alphabetische-uebersicht-ueber-die-infos-und-materialien
  • Eine Liste unserer Videos bei Youtube findet sich hier:
    https://schnell-durchblicken3.de/index.php/uebersichten/101-uebersicht-ueber-lernvideos

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