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Herwegh, Vom armen Jakob und von der kranken Lise

Georg Herwegh, Vom armen Jakob und von der kranken Lise

Dem Doppelgedicht aus der Zeit des Vormärz vorangestellt ist ein Zitat, das letztlich eine Drohung enthält gegen die realen "Zwerglein", "die sich brüsten und die thronen", die also eine völlig unangemessene Haltung einnehmen - und auch eine unverdiente Position. Ihnen gegenüber steht eine Masse, die zwar zur Zeit noch im "Finstern" wimmelt, bei der es sich aber um Millionen handelt. Letztlich kommt es nur auf die Umstände an, um die Verhältnisse zu ändern - wahrscheinlich wohl radikal in einer Revolution.

Im ersten Gedicht geht es um einen armen Mann, der in seinem Leben nicht das bekommen hat, was er eigentlich verdient hat - aufgrund seiner realen Arbeitsleistung. Am Ende steht auch hier die Drohung, dass die Fürsten am Ende im Jenseits dafür werden bezahlen müssen.

Das zweite Gedicht stellt die Situation einer jungen Frau dar, die mit ihrem noch ungeborenen Kind auf dem Weg zum Spital ist - und das zu Weihnachten. Während die Reichen das Geburtsfest eines auch armen Menschen feiern, haben sie kein Herz für die reale Not der Armen in ihrer Zeit.
Am Ende bringt die arme Frau ihr Kind an einer Säule zur Welt, die an die Revolution in Frankreich erinnert - auch das ein Zeichen, das da etwas war, was wieder kommen kann.
Der arme Jakob

Der alte Jakob starb heut nacht –
Da haben sie am frühen Morgen
Sechs Brettchen ihm zurechtgemacht
Und drin den Schatz geborgen.

Ein schmucklos Haus! Man gibt ins Grab
Dem Feldherrn doch den Feldherrndegen –
Warum nicht auch den Bettelstab
Auf diese Bahre legen?

Den Degen, den er treu geführt,
Der in die Scheide nie gekommen,
Bis ihn der letzte Schlag gerührt
Und von der Welt genommen.

Er war der Welt, sie seiner satt –
Zu zwölfen in der engen Stube ! –
Weh ihm ein überflüssig Blatt,
O Lenz, in seine Grube!

Als hätt er Großes nie getan,
Ist rasch der Glückliche vergessen,
Kein Dichter stimmt ihm Psalmen an,
Kein Pfaffe liest ihm Messen.

Die Heller, die man in den Sand
Ihm warf aus schimmernden Karossen,
Sind alles, was vom Vaterland
Der arme Mann genossen.

Just die vom Himmel ihm geprahlt,
Sahn diese Erde zwiefach gerne:
So wird die Schuld ans Volk bezahlt
Mit Wechseln auf die Sterne.

Und kaum ist uns genug am Joch
Der Armut auf gekrümmten Rücken:
Matt will der Knechtschaft Stempel noch
Ihr auf die Stirne drücken.

Schlaf wohl in deinem Sarkophag,
Drin sie dich ohne Hemd begraben:
Es wird kein Fürst am Jüngsten Tag
Noch reine Wäsche haben!
Anmerkungen zu dem Gedicht:


Einstieg mit dem Tod eines armen Mannes



Vergleich mit dem Tod eines Feldherrn









Beschreibung der engen Lebensverhältnisse des armen Mannes




Klage, dass seine Leistungen nicht gewürdigt werden




Hinweis auf die Almosen, die das einzige waren, was dieser Mann vom Vaterland bekommen hat



Kritik an der Kirche, die die Menschen nur auf das Jenseits vertrösten









Abschiedsgruß mit positiver Würdigung der Armut, während "kein Fürst am Jüngsten Tag / Noch reine Wäsche haben wird!

Das Gedicht zeigt die unwürdige Behandlung armener Menschen in der Zeit des Vormärz, also in der 1. Hälfte des 19. Jhdts.
Die kranke Lise

Weihnacht! die kranke Lise schreitet
Durchs Faubourg hin in banger Flucht,
Sie hat zu Haus kein Bett bereitet
Für ihres Leibes erste Frucht.
Wohl manches prunkt im Fürstensaale,
Den stolzer Kerzen Glanz erhellt –
Marsch, Lise, weiter, zum Spitale!
Dort kommt das Volk zur Welt.

»Mein armer Weber mag nur zetteln,
Sein Fleiß und Schweiß – was helfen sie?
Das Volk muß Sarg und Wiege betteln;
Allons, enfant de la patrie!
Kind, dem sie unter meinem Herzen
Die Lust am Leben schon vergällt,
Geduld, bis wir im Haus der Schmerzen!
Dort kommt das Volk zur Welt.

Sie feiern heut dem Gott der Armen,
Die reichen Herrn, ein Freudenfest:
Doch glaubt nicht, daß sich das Erbarmen
An ihrem Tische sehen läßt,
Daß je in ihre Festpokale
Der Schimmer einer Träne fällt –
Marsch, Lise, weiter, zum Spitale!
Dort kommt das Volk zur Welt.

Du machst mir wahrlich viel Beschwerden,
Der Liebe Kind, ich dacht es nie;
Das wird ein wilder Junge werden:
Allons, enfant de la patrie!
Für eurer Prinzen zarte Nerven
Ist Daun auf Daune hoch geschwellt:
Ich muß in einer Grube werfen –
So kommt das Volk zur Welt.

Kläng noch die Trommel unserm Ohre
Und wär noch eine Fahne rein:
Der Lappen einer Trikolore,
Er sollte deine Windel sein;
Du wärst getauft, eh seine Schale
Ein Pfaffe dir zu Häupten hält –
Marsch, Lise, weiter, zum Spitale!
Dort kommt das Volk zur Welt.

Wer wird so ungestüm sich melden?
Mein kleines Herz, was suchst du hie?
Nur noch zum Grabe jener Helden!
Allons, enfant de la patrie!
Dort seh ich in des Frührots Helle
Die Julisäule aufgestellt –«
Und niedersank sie auf der Schwelle; –
So kommt das Volk zur Welt!
Anmerkungen zu dem Gedicht:

Ausgangspunkt: Weihnachten - und Kontrast zwischen der Schwangerschaft einer armen Frau und dem Reichtum in den Schlössern der Fürsten







Hinweis auf die Chancenlosigkeit der armen Menschen - und das beginnt schon vor der Geburt.






Kontrast zwischen der religiösen Feier eines in einem Stall zur Welt Gekommenen und dem glanzvollen Umfeld, in dem das in der Gegenwart geschieht.






Die Schwangere spricht hier das Kind an, das ihr "viel Beschwerden" macht und das "in einer Grube" zur Welt kommt.
Wieder Hinweis auf den Kontrast zu dem Leben der Fürsten.






Andeutung, dass man jetzt gerne auf die Französische Revolution zurückgreifen würde.
Das würde dem Menschen Würde und Chance geben - ohne den Segen der Kirche.




Hinweis darauf, dass das noch nicht geborene Leben sich "ungestüm" zu Word meldet - dann die paradoxe Schlusssituation: Die Schwangere schafft es nicht mehr bis zum Spital, wohl aber zur Säule, die an die Revolution erinnert.
Dort kommt das Kind zur Welt - von seinem weiteren Schicksal erfährt der Leser nichts, er kann es sich aber denken.

Interessant sind die französischen Zitate im Text, die die direkt an den Geist der Französischen Revolution erinnern, hier aber natürlich keine Kraft entfalten können.


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