Neuer Text

Vergleich Morgenstern "Wohin?"u Goethe "Schwager Kronos"


Vergleich des Gedichtes "Wohin?" von Christian Morgenstern mit "An Schwager Kronos" von Goethe

Christian Morgenstern

Wohin?

Wohin noch
wirst du mich reißen,
ruhlose Sehnsucht –
  •     bange Frage
  •     nach dem Ziel
  •     eines besonderen Gefühls
  •     Verbindung von Sehnsucht und Ruhelosigkeit
wohin? wohin?
  •     Wiederholung, zeigt die Intensität des Gefühls
Hinter mir
dunkles Vergessen gebreitet;
vor mir der Zukunft
dunklerer Pfad …

  •     Erstmals Hinweis auf die Situation des Lyrischen Ichs
  •     Eher negativ
  •     Zukunft noch negativer

Aber noch hallt
meiner Hoffnungen Hufschlag
vor den rollenden Rädern,
auf denen
hochaufgerichtet ich noch,
allen Gefahren
heiter trotzend,
die Ferne suche.

  •     Positiver Gegensatz
  •     Beschreibung einer Art Kutschfahrt
  •     Vorne personifiziert die Hoffnungen
  •     Dahinter Stolz in menschlicher Person
  •     Schöne Kombination von "heiter" und "trotzig"
  •     Positive Wiederaufnahme des Anfangs: Gefahr und Ferne
Schatten und Lichter –
vorüber – vorüber –
in den Tiefen
klirrende Ketten –

  • Hinwendung zum Konkreten
nicht an mir –
nicht für mich –

  •     Distanzierung
mich lasst hinweg,
höher hinauf!
Freiheit! Leben!
Zukunft! Sterne!
Empor!

  •     Ausdruck von Widerstand
  •     Mit Wendung zu eigenen Zielen
  •     Sehr positiv besetzt
  •     Bis ins Kosmische hinein ("Sterne")
Noch
halten die Götter
goldene Schilde
schützend
über mein junges Haupt.

  •     Hinweis auf günstige Situation der Jugend,
  •     die genutzt werden will


Johann Wolfgang von Goethe

An Schwager Kronos

Spute dich, Kronos!
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg;
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Zaudern.
Frisch, holpert es gleich,
Über Stock und Steine den Trott
Rasch ins Leben hinein!
  • Situation einer Kutschfahrt
  • Wagenlenker wird angesprochen, trägt den Namen eines griechischen Gottes
  • Eile Antrieb
  • Verzögerung als unangenehm empfunden
  • Es lockt das Leben.
Nun schon wieder
Den eratmenden Schritt
Mühsam Berg hinauf!
Auf denn, nicht träge denn,
Strebend und hoffend hinan!
  • Wiederholung
  • Mehr zu sich selbst gesprochen

Weit, hoch, herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein,
Vom Gebirg zum Gebirg
Schwebet der ewige Geist,
Ewigen Lebens ahndevoll.
  • Positivere Atmosphäre und Situation, auch mehr Ruhe
  • Größere Perspektive
  • Sowohl räumlich als auch im Hinblick auf Bedeutung

Seitwärts des Überdachs Schatten
Zieht dich an
Und ein Frischung verheißender Blick
Auf der Schwelle des Mädchens da.
Labe dich! – Mir auch, Mädchen,
Diesen schäumenden Trank,
Diesen frischen Gesundheitsblick!
  • Rückkehr zur unmittelbaren Situation
  • Auch positiv
  • Nämlich Stärkung
  • Belebend

Ab denn, rascher hinab!
Sieh, die Sonne sinkt!
Eh sie sinkt, eh mich Greisen
Ergreift im Moore Nebelduft,
Entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlotternde Gebein.
  • Nach dem Positiven
  • Nun Gefahr des Abends
  • Düstere, gespenstische Atmosphäre

Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich geblendeten Taumelnden
In der Hölle nächtliches Tor.
  • Bereitschaft zum Äußersten

Töne, Schwager, ins Horn,
Raßle den schallenden Trab,
Dass der Orkus vernehme: ein Fürst kommt.
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.
  • Wieder Aufnahme des Anfangs
  • Der Kutscher soll sein kommen ankündigen
  • Geht von freundliche Aufnahme sogar in der Unterwelt ("Orkus") aus
  • Absolute Selbstüberhebung des Lyrischen Ichs, dass die "Gewaltigen" der Unterwelt sich bei seinem Eintritt erheben
  • "lüften" = grenzwertige Anspielung auf eine "ungelüftete" Situation, bis das Lyrische Ich eintritt
  • Übrigens hat Goethe den Schluss 15 Jahre später in die folgende Richtung "entschärft" - also nicht wundern, wenn das Gedicht in zwei Fassungen erscheint:
  • "Dass der Orkus vernehme: wir kommen,
    Dass gleich an der Türe / Der Wirt uns freundlich empfange."

Vergleich:
  1. Bei Morgenstern gibt es ein Vorwärtsdrängen, das aber eher unbestimmt ist, während es bei Goethes Lyrischem Ich ein klares Ziel zu geben scheint.
  2. Im Gedicht links gibt es eine Vergangenheit und eine Zukunft, bei Goethe gibt es nur das Vorwärtstreiben.
  3. Bei Morgenstern gibt es die allgemeine Situation des Unterwegsseins, bei Goethe die konkrete einer Kutschfahrt.
  4. Im linken Gedicht identifiziert sich das Lyrische Ich nicht mit seiner Umgebung, rechts dagegen wird sie genutzt, gibt es auch menschlichen Kontakt.
  5. Links geht es positiv hinauf in die Freiheit, ins Leben, rechts dagegen ins Totenreich, ja in die Hölle.
  6. Links stehen die Götter auf der Seite des Lyrischen Ichs, eine günstige Situation wird genutzt, rechts dagegen erscheint das Lyrische Ich selbst wie ein Gott bei den "Gewaltigen" in der Unterwelt.
  7. Insgesamt zeigt das Gedicht links die Sehnsucht des modernen Menschen nach vollem Leben, bei Goethe dagegen ist es eher eine Art Übermut, ja fast schon Größenwelt. Dieses Selbstbewusstsein gibt es in Morgensterns Gedicht nicht mehr.

Share by: