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Georg Heym, "Wolken"

Georg Heym, "Wolken"


Georg Heym

Wolken

(1)
Der Toten Geister seid ihr, die zum Flusse, 
Zum überladnen Kahn der Wesenlosen 
Der Bote führt. Euer Rufen hallt im Tosen 
Des Sturms und in des Regens wildem Gusse.



(2)
Des Todes Banner wird im Zug getragen. 
Des Heers carroccio führt die Wappentiere. 
Und graunhaft weiß erglänzen die Paniere, 
Die mit dem Saum die Horizonte schlagen.



(3) Es nahen Mönche, die in Händen bergen 
Die Totenlichter in den Prozessionen. 
Auf Toter Schultern morsche Särge thronen. 
Und Tote sitzen aufrecht in den Särgen.



(4)
Ertrunkene kommen. Ungeborner Leichen. 
Gehenkte blaugeschnürt. Die Hungers starben 
Auf Meeres fernen Inseln. Denen Narben 
Des schwarzen Todes umkränzen rings die Weichen.


(5)
Es kommen Kinder in dem Zug der Toten, 
Die eilend fliehn. Gelähmte vorwärts hasten. 
Der Blinden Stäbe nach dem Pfade tasten. 
Die Schatten folgen schreiend dem stummen Boten.


(6)
Wie sich in Windes Maul des Laubes Tanz 
Hindreht, wie Eulen auf dem schwarzen Flug, 
So wälzt sich schnell der ungeheure Zug, 
Rot überstrahlt von großer Fackeln Glanz.


(7)
Auf Schädeln trommeln laut die Musikanten, 
Und wie die weißen Segel blähn und knattern, 
So blähn der Spieler Hemden sich und flattern. 
Es fallen ein im Chore die Verbannten.



(8) Das Lied braust machtvoll hin in seiner Qual, 
Vor der die Herzen durch die Rippen glimmen. 
Da kommt ein Haufe mit verwesten Stimmen, 
Draus ragt ein hohes Kreuz zum Himmel fahl.



(9)
Der Kruzifixus ward einhergetragen. 
Da hob der Sturm sich in der Toten Volke. 
Vom Meere scholl und aus dem Schoß der Wolke 
Ein nimmer endend grauenvolles Klagen.


(10)
Es wurde dunkel in den grauen Lüften. 
Es kam der Tod mit ungeheuren Schwingen. 
Es wurde Nacht, da noch die Wolken gingen 
Dem Orkus zu, den ungeheuren Grüften.


Anmerkungen zu dem Gedicht

Wir gehen "induktiv" vor, d.h. wir bauen nach und nach ein Verständnis des Gedichtes auf, mit dem man weiterarbeiten kann.

Titel:
Der Titel ist äußerst knapp und lässt nur erwarten, dass es um ein ganz bestimmtes Phänomen geht, das man normalerweise am Himmel sehen kann.
Spannend wird sein, ob es auch im übertragenen Sinne gemeint ist.

1. Strophe:
Die Erwartung wird gleich erfüllt, denn die Wolken werden als der "Toten Geister" verstanden, die die Verstorbenen zu dem Kahn führen, der über den Grenzfluss zur Unterwelt bringen. Hier ist es natürlich hilfreich, wenn man die entsprechenden Vorstellungen aus der griechischen Sagenwelt kennt. (Styx als "Wasser des Grauens", der Fährmann Charon bringt die Toten in die Schattenwelt).
Interessant ist, dass dies alles in einer Atmosphäre des Sturms stattfindet, als ob die Toten sich noch ein letztes Mal gegen ihr Schicksal wehren ("Rufen").

2. Strophe:
Hier ist von einem "Zug" die Rede. "Carrocio" war ein Triumphwagen, der im mittelalterlichen Italien verwendet wurde.
Hier wird das Wolkensymbol eher ungewöhnlich gefasst und plastisch sehr stark und fantasievoll ausgestaltet. Auf jeden Fall bleibt mit "graunhaft" die Vorstellung vom "Wasser des Grauens" erhalten.

3. Strophe:
In dieser Strophe ist man dann mitten in der wohl christlich zu verstehenden Mönchswelt angelangt. Auch die "Totenlichter" passen zu entsprechenden Beerdigungs- und Friedhofsritualen. Auffallend ist, dass die Toten "aufrecht in den Särgen" sitzen, was wohl mit bestimmten Wolkenformationen zu erklären ist, und dass diese Särge auch noch von Toten getragen werden. Da ist man gespannt, wie weit das Motiv des Todes hier ausgedehnt wird.

4. Strophe:
Hier findet sich eine Liste von Todesarten, die zu diesem Zug geführt haben. Im Kopf behalten sollte man, dass es sich vorwiegend um unnötige, vorzeitige Todesfälle handelt.

5. Strophe:
Hier merkt man wieder, dass die Vorstellung vom Tod auch auf eine Art lebende Tote ausgedehnt wird.
Offensichtlich sieht das Lyrische Ich das gesamte Leben vom Tod gezeichnet, was zu den Weltende-Vorstellungen der Zeit passt.

6. Strophe:
Hier geht es wieder mehr um die Umgebung dieses Totenzuges, was den Eindruck einer Weltuntergangssituation verstärkt.

7. Strophe:
Hier wird das Bild noch mal ausgeweitet - nämlich auf nicht mehr direkt als tot bezeichnete Begleiter, die diesem Zug ein festliches Drumherum verschaffen. Wenn von "der Spieler Hemden" die Rede ist, dann ist die Vorstellung vom Totenhemd wieder ganz nah.

8. Strophe:
Diese Strophe nimmt die Idee vom "Rufen" aus der ersten Strophe wieder auf. Es ist noch ein bisschen Leben im Sinne von Bewegung und Lautabgabe in diesem Zug. Wenn man "ein hohes Kreuz" aus allem herausragt, ist die Anspielung auf das Christentum und seine Jenseitshoffnung ganz deutlich - allerdings ist es "fahl", also bleich, nicht lebendig.

9. Strophe:
Das Symbol des sterbenden Christus steht dem "Sturm" des Totenvolkes gegenüber, von dem nur ein "nimmer endend grauenvolles Klagen" zu hören ist, also fern aller Jenseitshoffnungen, es klingt fast wie ein Protest.

10. Strophe:
Am Ende ist dann auch der Tod der Sieger - ganz im Gegensatz zur Botschaft der Bibel, die ja gerade den Sieg über den Tod hervorhebt.

Intention:
Das Gedicht zeigt
  1. die Verbindung eines Naturphänomens (Wolken) mit der Vorstellung vom Totenzug,
  2. angelehnt an Vorstellungen vom Totenfluss in der griechischen Sagenwelt,
  3. den Kontrast zwischen dem Anspruch des Christentums eines Sieges über den Tod und der Realität der totalen Herrschaft des Todes und seiner Welt des "Orkus" mit den "ungeheuren Grüften" - also Abgründen.
  4. dass den Menschen angesichts dieser Situation nur das "Rufen" bleibt, also das Hinaussingen oder auch Hinausschreien ihrer Not,
  5. dass dieser Untergang eigentlich alles umfasst, was zur Vorstellung von der Apokalypse, vom Weltuntergang in der Zeit des Expressionismus passt.
Was den künstlerischen Charakter des Gedichtes angeht, so
  1. steht im Zentrum die Verbindung des Naturphänomens Wolken mit der Vorstellung von einem Totenzug,
  2. dominieren Anspielungen auf die griechische Sagenwelt und Symbole des Christentums,
  3. spielen Aufzählungen eine große Rolle (4. Strophe)
  4. Personifizierungen (Strophe 6),#
  5. bsd. des Todes in der Schlussstrophe
Die Form des Gedichtes ist wie in den meisten Fällen in der Zeit des Expressionismus sehr regelmäßig.
Wir haben einen fünfhebigen Jambus und
einen umarmenden Reim.
Es ist wirklich erstaunlich, wie sehr die Expressionisten sich an feste Formen geklammert haben, während sie inhaltlich mit dem Hammer zugange waren.

Man könnte hier noch viel mehr aufführen, aber entscheidend ist für uns erst mal die inhaltliche Aussage.


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