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Der Dichter Kleist: Wo steht er in der Literaturgeschichte?

Während es bei vielen Dichtern der Zeit um 1800 ziemlich einfach ist, sie einer oder auch mehreren Epochen zuzuordnen, ist das bei Kleist ziemlich schwierig.

Als jemand, der 1777 geboren wurde, hat er mit dem Sturm und Drang sicher nicht mehr viel Kontakt gehabt. Die Klassik war für jemanden, der bei Goethes Italienreise 1786-88 gerade mal um die 10 Jahre alt war, sicher auch kein naheliegender literarischer Andock-Punkt.

Wenn man seinen familiären Hintergrund von Adel und Offiziersstand betrachtet, ist es verständlich, dass er zunächst von der Aufklärung geprägt wurde, die natürlich nicht einfach vorbei war, sondern auf vielfältige Weise weiterwirkte. Bei Kleist führte das dazu, dass er zwar Offizier wurde, dann aber im Dienst bald eine kritische Distanz zum militärischen Treiben entwickelte.
Stattdessen setzt er sich hohe Ziele persönlicher Bildung, will eine allseitig gebildete Persönlichkeit werden, in gewisser Weise sogar ein edler Mensch. Goethe hätte eigentlich an ihm seine helle Freude haben müssen.

Stattdessen erfährt er bald die Grenzen damaliger Bildung, was bei ihm Ekel und Überdruss auslöst. Jetzt entwickelt sich bei ihm ein Bewusstsein der "gebrechlichen Einrichtung der Welt", wie es später in der "Marquise von O...." formuliert wird.

Ähnlich wie Schiller erlebt er eine regelrechte "Kant-Krise", denn der Königsberger Philosoph hatte ja die Grenzen einer jeden menschlichen Erkenntnis aufgezeigt. Damit ist der "Rest des Vertrauens an die Vernunft und die Durchschaubarkeit der Welt erschüttert, stürzt der Plan einer bewussten Lebensgestaltung gänzlich in sich zusammen" (Bernd Ogan, Klett, Lektüreschlüssel, S. 57). In dem Zusammenhang wird auch eine Selbstäußerung Kleists zitiert: "Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr".

Dazu kommt auch eine zunehmende Distanz zu der Vorstellung, die Sprache sei eine sichere Basis für das Denken und die Kommunikation.

Im Sommer 1801 reist Kleist mit seiner Schwester nach Paris, wo er den "Verrat an den sittlichen Idealen der Aufklärung" (Reclam, Lektüreschlüssel, 60) erlebt. Kritisiert wird vor allem die "Unpersönlichkeit und Beziehungslosigkeit des großstädtischen Lebens" (a.a.O.) . Jetzt sieht er die Menschheit geradezu auf einen Abgrund hin zutaumeln.

Er beginnt, sich intensiv mit dem Philosophen Rousseau zu beschäftigen, der ja das Motto ausgegeben hat: "Zurück zur Natur".  Aber aus dem geplanten Leben als Aussteiger in der Schweiz wird nichts.

Kleist entwickelt jetzt ein ganz eigenes Programm des Denkens und Schreibens zwischen Aufklärung und Romantik, wie es in einer Rezension einer Tagung sehr gut zusammengefasst wird:
https://literaturkritik.de/id/8726
Dort wird nämlich darauf verwiesen, dass Kleist das Programm der Aufklärung ernst nimmt, ja ernster als viele Aufklärer der selbst, die an die "Erziehung des Menschengeschlechts" (Lessing) glaubten und überhaupt optimistisch in eine sich angeblich ständig bessernde Zukunft blickten.
Das heißt: Kleist stellt sich unbefangen und die Wahrheit suchend der Wirklichkeit und entdeckt in ihr eben auch die dunkle Seite des Menschen, was ihn an die Nachtseite der Romantik heranführt. Am extremsten zeigt sich das in Kleists Drama "Penthiselia", in der die Heldin ihren Geliebten regelrecht zerreißt.

Auch in der "Marquise von O...." wird genau dieses Dunkle sichtbar, wenn der russische Offizier die Frau zuerst rettet, dann aber zumindest ihre Schwäche ausnutzt und sie damit im damaligen Sinne entehrt.
Dann aber die Wende: Dieser Mann tut alles, um sein Vergehen wiedergutzumachen - dabei scheut er keine extremen Gefühle und entsprechenden Situationen.
Damit wird gerade an dieser Novelle deutlich, in welchem Ausmaß Kleist ein Grenzgänger der Literaturepochen war - zwischen Aufklärung und Romantik.

Die Klassik lassen wir mal lieber weg - deren Bemühungen um "edle Einfalt" und "stille Größe" passt nun wirklich nicht zu diesem Dichter, der ständig an sich selbst zweifelte, seine hohen Ziele meinte zu verfehlen und am Ende mit der Geliebten zusammen Selbstmord beging.

Fassen wir zusammen:
  1. Kleist beginnt als Vertreter der Aufklärung,
  2. wird dann aber bald von ihr enttäuscht,
  3. bleibt aber ihrer Methode treu, nämlich den Dingen vorurteilsfrei auf den Grund zugehen,
  4. wobei er sich gerade auch den dunklen Seiten des Menschen, des Lebens und der Welt insgesamt annähert.
  5. Das kann man sehr gut in der "Marquise von O...." sehen: Dort ist die edle Tat der Rettung vor einer Vergewaltigung mit der bösen Tat der Ausnutzung dieser Situation verbunden, die Adlige in Schande bringt (nach damaligem Verständnis).
  6. Dann aber tut dieser Offizier alles, um sein Vergehen im Rahmen des Möglichen wiedergutzumachen. Dabei zeigt er sich als Romantiker durch und durch, also als jemand, der sich ganz seiner Liebe hingibt und dabei alles riskiert, auch das eigene Ansehen.
  7. Am Ende gibt es zwar ein Happy End, aber es bleibt die Einsicht in die "Gebrechlichkeit der Welt".
  8. Von daher kann man zusammenfassend sagen: Kleist ist ein Vertreter der Aufklärung, aber einer, der so weit geht mit der Realitätswahrnehmung, dass er sich auch auf radikale Weise dem Dunklen zuwendet und es in sein Werk einbezieht.
  9. Insgesamt ist auch sein ganzes Leben von Brüchen und Enttäuschungen, ja von Verzweiflung bestimmt, so dass er am Ende sogar mit seiner Geliebten, die unheilbar krank war, zusammen Selbstmord begeht.
  10. Als besonderer Punkt sei noch nachgetragen, dass Kleist schon eine ausgeprägte Sprachskepsis zeigt, wie wir erst wieder um 1900 erleben (besonders in dem "Brief des Lord Chandos"). Er glaubt nicht, dass Menschen sich wirklich umfassend austauschen können, jeder bleibt damit letztlich auch ein Stück weit allein.
Deshalb ergänzen wir unser Schaubild noch wie folgt:

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