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"Die Physiker": Kritischer erster Eindruck


Dürrenmatt, "Die Physiker" - vorläufige Frage nach dem Sinn dieser "Komödie"

Dürrenmatts Komödie "Die Physiker" kommt bei Schülern recht gut an - dieser Schriftsteller hat eben die Fähigkeit, komische bis groteske Situationen zu schaffen und uns damit zum Nachdenken zu bringen.
Doch was genau kommt dabei heraus?
Der folgende Text stellt auf eine etwas naive, aber eben auch produktive Weise die Frage nach der eigentlichen Aussage des Theaterstücks und dem möglichen Sinn.
Dass das recht kritisch endet, hat auch damit zu tun, dass der Verfasser noch nicht in alle Tiefen Dürrenmattschen Denkens eingestiegen ist. Aber als Lehrer wollte er bewusst seine Schüler ein bisschen provozieren und sie auf einen gemeinsamen Recherche- und Interpretationsweg bringen. Denn nur so kann man großer Literatur gerecht werden - und Spaß kann es auch machen.
Die Nutzer unserer Webseite mögen verzeihen, dass der Lehrer hier unter einem Pseudonym schreibt, das hat er auch im eigenen Kurs verwendet. Schließlich sollen die Schüler sich ja mit der Sache auseinandersetzen und nur indirekt und in diesem Falle im Schutz sinnvoller Anonymität mit dem Verfasser.
Wer Fehler in der Argumentation entdeckt oder andere Auswege aus einem erst mal nur vorläufigen Verständnis des Stücks weiß, kann sich gerne direkt per Mail an uns wenden:
ht@schnell-durchblicken.de

Wir haben den Text in seinem Gedankengang durchnummeriert, um das Gespräch darüber zu erleichtern.
Das kann auch eine gute Vorübung für die zentrale Klausur in der Einführungsphase sein, bei der es ja in NRW wohl um Sachtexte geht.
Hallo Gelsenbeck,

Friday for a better science – oder: Kämpfen für „Die Physiker 2.0“

  1. Was denkt wohl ein Schüler, der sich anständig in Wikipedia über Dürrenmatts Komödie “Die Physiker” informiert hat und nun erwartet, so was wie “Verantwortung der Wissenschaft” vorzufinden?
  2. Nun irgendetwas, was dazu auch passt. Stattdessen wird er mit einem etwas seltsamen Mordfall konfrontiert, den leicht alkoholisierte Polizisten versuchen aufzuklären.
  3. Noch seltsamer wird es dann aber, wenn der zuständige Inspektor seine Ermittlungen mit der Frage beginnt, ob er hier eine Zigarre rauchen könne. Nicht etwa eine schnelle Zigarette, um den immer noch vorhandenen Anfangsschock beim Anblick einer neuen Leiche zu überwinden - nein, eine Zigarre, die der Mann von Welt schon immer in feierlicher Zeremonie und in vollkommener Ruhe des Herzens genoss.
  4. Aber es kommt noch besser: Als nächstes hätte der Inspektor gerne statt des angebotenen Tees einen Schnaps. Entweder ist er ein ziemlich heruntergekommener Alkoholiker oder er hat wirklich ein sensibles Gemüt.
  5. Letzteres ist aber wohl auszuschließen, denn um die Leiche kümmert er sich kaum. Er erfragt bei der Oberschwester des Sanatoriums nur kurz ein paar persönliche Daten der ermordeten Pflegerin und lässt sich dann vertrösten, was die eigentlich wichtigere Chefärztin angeht. Die muss nämlich mit dem, der schon eine Pflegerin davor umgebracht hat, erst mal eine Runde Geige spielen.
  6. Während der Inspektor sich also möglichst vom Opfer fernhält, ist der Pathologe voll freudiger Erregung angesichts der großen Kraft, die beim aktuellen Mord ausgeübt worden ist.
  7. Alles in allem treffen hier sehr seltsame Ermittler auf eine sehr seltsame Situation.
  8. Aber es soll ja auch eine Komödie sein.
  9. Aber so richtig lustig ist es nicht wirklich. Es geht einem wie dem Inspektor, man fragt sich, wer hier eigentlich verrückt ist.
  10. Unser Schüler denkt sich nun: Wer weiß, was Dürrenmatt unter einer Komödie versteht?! Tatsächlich wird er schnell im Internet fündig: Es geht diesem Dichter weniger um Lustiges als um Groteskes, zu zeigen, dass die Welt aus den Fugen gegangen ist. Und genau den Eindruck hat man auch beim Einstieg in das Theaterstück. Also: Ein Punkt für den Dichter.
  11. Aber: Man ist nun gespannt, wie er die Welt denn am Ende wieder zusammenbasteln will, denn es geht doch um Verantwortung und die müsste wenigstens ein bisschen ernsthaft und dann auch konstruktiv sein.
  12. Nun ist unser Schüler ja erst beim ersten Eindruck und der kann sich ja noch ändern. Aber so ganz traut er Dürrenmatt jetzt doch nicht. Deshalb schaut er sicherheitshalber in einer Interpretation nach und erfährt, dass diese Mörder (es kommt noch ein dritter dazu) das alles tun, um gefährliche wissenschaftliche Erkenntnisse unter Verschluss zu halten. Dummerweise bleiben sie dort nicht - sondern über allem thront eine wahnsinnige Ärztin und Großunternehmerin, die sich die ganzen neuen Erkenntnisse schon unter den Nagel gerissen hat und jetzt auf den Markt werfen will - ganz gleich, was dabei herauskommt.
  13. Was will uns Dürrenmatt also sagen: Forsche gar nicht, denn sobald eine Erkenntnis in der Welt ist, kann man sie nicht mehr kontrollieren? Nur: Auf Forschung verzichten, hieße, dass wir am Ende wieder in Erdlöchern hausen und bei ungünstigem Ergebnis der Jagd elend verhungern.
  14. Dann bleibt also nur die traurige Erkenntnis, wie die Welt ist und dass sie sich nicht ändern lässt.
  15. Aber wozu brauchen wir dafür sein Drama - das sehen wir doch jeden Tag, wenn wir die Zeitung lesen oder Nachrichten gucken.
  16. Glücklicherweise haben wir ja die Friday-for-future-Bewegung. Die sorgt zumindest etwas dafür, dass viele Schüler zumindest an einem Tag keine fatalistischen Dramen lesen und stattdessen Wahnsinnige wie Frau von Zahnd daran hindern, sich mit dem SUV oder per Flugzeug schnell an neue Tatorte zu bewegen.
  17. Das wird zwar die Welt nicht retten, aber der Menschheit die eine oder andere Atempause verschaffen.
  18. Die wird dann vielleicht von einem anderen Schriftsteller genutzt, der nicht nur Lust auf eine groteske Komödie hat, sondern zumindest in der Fiktion neue Wege in eine bessere Welt zeigt, die dann vielleicht auch begangen werden können.

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